23. Sep­tem­ber 2024

Adieu Chérie!

Oder von der Macht der Umbrüche auf unsere Entwicklung

Manchmal merken wir es nicht, dass ein Verhalten, was uns erfolgreich gemacht hat, in der aktuellen Situation nicht mehr hilfreich ist. Weil es bisher jedoch erprobt, erwiesenermaßen funktionstüchtig war…

Text & Bild | Nadi­ne Tho­mas

 

Manch­mal mer­ken wir es nicht, dass ein Ver­hal­ten, was uns erfolg­reich gemacht hat, in der aktu­el­len Situa­ti­on nicht mehr hilf­reich ist. Weil es bis­her jedoch erprobt, erwie­se­ner­ma­ßen funk­ti­ons­tüch­tig war, hal­ten wir an der bewähr­ten Lösungs­stra­te­gie fest. Viel­leicht inten­si­vie­ren wir unser Ver­hal­ten sogar nach dem Mot­to „viel hilft viel“ und mer­ken nicht, dass sich die Anfor­de­run­gen unse­rer Umwelt gra­vie­rend ver­än­dert haben. „What got you here won’t get you the­re“, so Golds­mith.

In mei­nem Berufs­all­tag beob­ach­te ich die­ses „Fest­ste­cken“ bei­spiels­wei­se bei man­chen Fach­kräf­ten, die auf einen Füh­rungs­pos­ten wech­seln oder Wis­sen­schaft­le­rin­nen, die auf einer Pro­fes­sur lan­den: sie ver­trau­en nach der Umbruchs­pha­se auf die alt­be­währ­te Bewäl­ti­gungs­stra­te­gie, die sie in die betref­fen­de Posi­ti­on gebracht hat. Dabei neh­men sie nicht wahr, dass die grund­le­gen­de Ände­rung der Anfor­de­run­gen durch die neue Posi­ti­on oder Stel­le auch einen tief­grei­fen­den Wan­del in der eige­nen Per­son und Hal­tung erfor­dert.

Den Pro­fi machen las­sen?

Im Fran­zö­si­schen gibt es den schö­nen Begriff der „Défor­ma­ti­on pro­fes­si­on­nel­le“, der laut Wiki­pe­dia „die Nei­gung bezeich­net, eine berufs- oder fach­be­ding­te Metho­de oder Per­spek­ti­ve unbe­wusst über ihren Gel­tungs­be­reich hin­aus anzu­wen­den. Auf fach­frem­de The­men oder Situa­tio­nen ange­wen­det, kann das zu einer ein­ge­eng­ten Sicht­wei­se, zu Fehl­ur­tei­len oder zu sozi­al unan­ge­mes­se­nem Ver­hal­ten füh­ren.“

Da hat man über vie­le Jah­re hin­weg alle Ener­gie dar­auf ver­wen­det, die Fach­kraft oder den Wis­sen­schaft­ler zum Pro­fi zu machen und ein Set an Gedan­ken- und Ver­hal­tens­wei­sen trai­niert, das gehol­fen hat, die not­wen­di­gen Auf­ga­ben zu meis­tern.

Und jetzt hel­fen die­se Skills nicht mehr wei­ter? Jetzt müs­sen wir uns, wenn wir die Qua­li­tät unse­rer Arbeit auf­recht hal­ten wol­len, von dem Ver­hal­ten tren­nen, das uns erfolg­reich gemacht hat?

Unter­neh­mens­le­bens­zy­klus und per­sön­li­che Ent­wick­lung

Ich ken­ne den Fall auch. Unter­neh­men durch­lau­fen in ihrem Lebens­zy­klus näm­lich unter­schied­li­che Pha­sen. In der Grün­dungs­pha­se braucht es eine Grün­de­rin die mit Krea­ti­vi­tät, Leis­tungs­lust, Lei­den­schaft, Fle­xi­bi­li­tät und Offen­heit aus­ge­stat­tet ist. Jemand, der den Fokus auf das Gestal­ten, Ent­wi­ckeln, Erpro­ben und Expe­ri­men­tie­ren legt.

In der anschlie­ßen­den Wachs­tums­pha­se geht es für Unter­neh­men in ers­ter Linie dar­um, die Posi­ti­on am Markt zu fes­ti­gen, Erfol­ge zu erzie­len sowie den Umsatz zu stei­gern. Da spie­len Aspek­te wie die Ener­gie- und Res­sour­cen­ef­fi­zi­enz und die Straf­fung des Pro­dukt- oder Dienst­leis­tungs­an­ge­bots eine wich­ti­ge Rol­le. In die­ser Pha­se dre­hen sich die unter­neh­me­ri­schen Zie­le also um Umset­zen, Ablie­fern, Ska­lie­ren und dar­um, inne­re Pro­zes­se zu opti­mie­ren.

Mit den neu­en Zie­len ver­än­der­ten sich die Anfor­de­run­gen an mich. Ich muss­te mei­nen Stil, die Art, wie ich mei­ne Unter­neh­mung füh­re, nach wel­chen Kri­te­ri­en ich mei­ne Ent­schei­dun­gen fäl­le und wohin ich mei­ne Zeit und Res­sour­cen allo­kie­re, den aktu­el­len Erfor­der­nis­sen mei­nes Unter­neh­mens anpas­sen.

Um am Markt bestehen zu blei­ben, muss­te ich für die­se Pha­se zuneh­mend die „inne­re Unter­neh­me­rin“ rekru­tie­ren. Plötz­lich wur­den Eigen­schaf­ten wie Ergeb­nis­ori­en­tie­rung, Fokus­sie­rung, Dis­zi­plin, Beharr­lich­keit, Aus­dau­er und Ehr­geiz über­le­bens­wich­tig.

Neue sozia­le Rol­len als Poten­ti­al für Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung

Umbruchs­pha­sen ber­gen also auch eine poten­ti­el­le Gefahr per­sön­li­cher Kri­sen, denn nicht immer ist die Anpas­sung ein­fach oder gewollt. Sie erfor­dert eini­ges an „inne­rer Arbeit“.

Aber es kann funk­tio­nie­ren! For­schungs­er­geb­nis­se stüt­zen den rele­van­ten Ein­fluss von beruf­li­chen Umbrü­chen auf die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung. „Erstaun­li­cher­wei­se haben wir fest­ge­stellt, dass der Job die Per­sön­lich­keit stär­ker ver­än­dert als fami­liä­re Ereig­nis­se“, sagt Jule Specht in einem Inter­view mit Zeit Online. Sie ist Pro­fes­so­rin an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin und unter­sucht, wie sich die Per­sön­lich­keit von Men­schen im Lau­fe des Lebens ver­än­dert.

Die For­schung zeigt, dass Per­sön­lich­keits­ver­än­de­run­gen unter ande­rem durch Ver­än­de­run­gen der sozia­len Umwelt aus­ge­löst wer­den und mit den sozia­len Erwar­tun­gen zu tun haben, denen wir dort aus­ge­setzt sind. „Wir pas­sen unse­re Per­sön­lich­keit an die neue Rol­le an, um sie bewäl­ti­gen zu kön­nen“, resü­miert die Psy­cho­lo­gin.

Sich den Ent­wick­lungs­auf­ga­ben stel­len

Wenn wir beruf­lich neue Rol­len ein­neh­men, müs­sen wir uns neu­en Ent­wick­lungs­auf­ga­ben stel­len. Das erfor­dert eine gro­ße Por­ti­on per­sön­li­che Ver­än­de­rungs­be­reit­schaft, Enga­ge­ment und die Akzep­tanz der Not­wen­dig­keit eines neu­en Skill­sets.

Dass die Ent­wick­lung gelingt, müs­sen wir unse­re eige­ne Ver­än­de­rung als wün­schens­wert erach­ten, sie für mög­lich hal­ten und in neue Ver­hal­tens­ge­wohn­hei­ten über­setz­ten kön­nen (Hen­ne­cke et al., 2014, Hud­son & Fra­ley, 2015).

Wenn ich als Psy­cho­lo­gin die­se Pha­sen beglei­te, ist es mir daher wich­tig, zunächst ein Bewusst­sein für die neue Situa­ti­on zu schaf­fen und mit Ziel­bil­dern zu arbei­ten. Die Ziel­bil­der sol­len die neu­en Erwar­tun­gen kon­kre­ti­sie­ren und Ver­än­de­rungs­we­ge sowie Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien auf­zei­gen. Eben­so wich­tig scheint mir, sich das Erle­ben der neu­en Ver­hal­tens­wei­sen und wie­der­hol­te Wirk­sam­keits­er­fah­run­gen bewusst zu machen.

Bis­he­ri­ge Leis­tung wür­di­gen

Ich selbst habe mei­ne „inne­re Grün­de­rin“ nicht ein­fach „vor die Tür gesetzt“, son­dern zunächst ihre gro­ße Leis­tung und ihre bis­he­ri­ge Arbeit gewür­digt. Denn, eins ist klar: Ohne sie wäre ich nicht hier.

Jetzt hat sie in mei­ner Unter­neh­mung als „Pro­dukt­ent­wick­le­rin“ einen neu­en Platz. Dort darf sie wei­ter hilf­reich sein, aber eben nicht mehr das Ruder in der Hand hal­ten. Die „inne­re Unter­neh­me­rin“ dage­gen übt noch hart und flei­ßig.

Mein per­sön­li­ches Ziel dabei ist es, nicht an ein­zel­nen Rol­len oder Per­sön­lich­keits­zu­stän­den fest­zu­kle­ben, son­dern mei­ne inne­re Beweg­lich­keit zu för­dern und mei­ne Fähig­keit für situa­ti­ons­spe­zi­fi­sche Anpas­sun­gen zu erhö­hen.

 

Quel­len­an­ga­ben:

Golds­mith, M. (2013). What got you here won’t get you the­re. Lon­don: Pro­fi­le Books.

Hen­ne­cke, M., Blei­dorn, W., Denis­sen, J. J. A., & Wood, D. (2014). A three-part frame­work for self-regu­la­ted per­so­na­li­ty deve­lo­p­ment across adult­hood. Euro­pean Jour­nal of Per­so­na­li­ty, 28, 289–299.

Hud­son, N. W., & Fra­ley, R. C. (2015). Voli­tio­nal per­so­na­li­ty trait chan­ge: Can peo­p­le choo­se to chan­ge their per­so­na­li­ty traits? Jour­nal of Per­so­na­li­ty and Social Psy­cho­lo­gy, 109, 490–507.

Jule Specht im Inter­view von Zeit Online, Zugriff am 23.09.2024 unter https://www.zeit.de/wissen/2018–05/psychologie-persoenlichkeit-entwicklung-alter-forschung/komplettansicht

Wiki­pe­dia, Zugriff am 23.092024 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Déformation_professionnelle