9. April 2020
Lassen Sie Ihre Topspielerinnen und ‑spieler im Büro
Vom Wert der Balance innerer Rollen
Sich im Inneren beweglich und nicht eintönig aufzustellen, ist ein wichtiger Schlüssel psychischer Gesundheit. Es bedeutet, sein „inneres Team“ stimmig einzusetzen und situationsgerecht zu variieren – und damit immer wieder Platz für unterschiedliche Rollen zu schaffen…
Eines meiner aktuellen Themen ist die „Selbstfürsorge“. Denn gerade, wenn der Laden gut läuft, ich von einem Termin zum nächsten hopse und dabei für meine Arbeit brenne, fällt es mir abends schwer abzuschalten. Abstand zu gewinnen. Nach getaner Arbeit in andere Rollen zu schlüpfen, die mein Leben in Ergänzung zu meiner Arbeitswelt bereichern. Wenn ich nicht aufpasse, klebe ich dann geradezu an meinen inneren „Topspielerinnen“ fest.
Doch genau dieser zeitweilige Abstand ist so wichtig, um lebendig und gesund zu bleiben! Wir Psychologinnen und Psychologen gehen nämlich davon aus, dass innere Dynamik und Vielfalt zur psychischen Gesundheit beitragen. Dass wir unser „inneres Team“ im besten Fall stimmig einsetzen, das heißt, situationsgerecht variieren – und damit immer wieder Platz für andere Rollen schaffen. „Abzuschalten“ bedeutet dann: die Spielerinnen, die seit Stunden auf dem Spielfeld stehen, mal zur Erholung auf die Bank zu setzen und anderen Spielerinnen die Chance zu geben.
Aber gerade, wenn einzelne Teammitglieder überpräsent sind, weil sie beispielsweise täglich im Job gefordert werden, kann es passieren, dass wir sie in den Feierabend mitnehmen. Wir sie nicht ablegen können. Dass diese Rollen auch über den Job hinaus aktiv bleiben – oder von unserer Umwelt aktiv gehalten werden.
Um ein Beispiel zu nennen: Nach einem langen Arbeitstag sitze ich im Zug auf dem Heimweg. Eigentlich möchte ich aus dem Fenster schauen, Energie tanken, die Seele baumeln lassen – nicht zuhören, nicht denken, nicht reden müssen. Doch mein Platznachbar hat indessen erkannt, dass da jemand neben ihm sitzt, der trainiert darin ist, aufmerksam, aktiv und geduldig zuzuhören. Er hat seine Chance ergriffen. Zack, liegt mir seine ganze Lebensgeschichte im linken Ohr. Da ich müde bin, verläuft das Gespräch unidirektional. Mein Platznachbar redet, ich höre zu und nicke.
Alle anderen Menschen im Abteil scheinen ihren Feierabend zu genießen – trotz Platznachbarn. Warum gelingt mir das nicht? Ich war den ganzen Tag schon eine aktive Zuhörerin und offenbar fällt es mir jetzt schwer, aus dieser Rolle herauszufinden und die Grenze zu meinem Sitznachbar zu ziehen. Da seine Geschichte emotional und bewegt ist, möchte ich ihn nicht unterbrechen. Vielleicht hat er sonst niemand, dem er seine Sorgen erzählen kann?
An mich, an meinen Feierabend, ist in diesem Moment nicht mehr zu denken. Ich merke erst, als ich ein paar Stunden später innerlich leer aus dem Zug steige, dass ich dem Sitznachbar meine volle Aufmerksamkeit und meine letzte Energie geschenkt habe. Für den Moment, in dem ich agieren hätte können, ist es zu spät.
Zu Hause, als ich beim abendlichen Zähneputzen meinen Tag noch einmal an mir vorbeiziehen lasse, beschließe ich das Ende dieses Einpersonenstücks, dieses Solospiels. Es ist mir zu einförmig, zu monoton. Meine Topspielerinnen sind hilfreich und gut, ja, doch sie alleine halten das Innenleben nicht lebendig.
Wir sind dann glücklich, wenn wir uns breit aufstellen, in dem wir die innere Pluralität und Agilität fördern. Dafür müssen wir aktiv sorgen. Wir müssen eine innere Balance unserer Rollen schaffen. Und das heißt auch: Grenzen für manche dieser Rollen ausmachen.
Um den Blick auf meine Rollen im Arbeitsalltag und mögliche „Gegenspielerinnen“ zu schärfen, versank ich bei der nächsten Zugfahrt in dem Buch: „Lassen Sie es in Ihrer Praxis“ (Norcross & Guy, 2010), einem Ratgeber für Psychotherapeut*innen „in ihrem alltäglichen Kampf um die Balance zwischen beruflichem und individuellem Leben“. Er lässt sich auch für meinen Berufskontext der Beratung und des Coachings gut lesen. In meinen Augen sollte jeder Beruf ein solches Buch von Norcross und Guy haben!
Literaturverweis:
Norcross, J. C. & Guy J. D. (2010). Lassen Sie es in Ihrer Praxis. Wie Psychotherapeuten für sich selbst sorgen können. Göttingen: Huber.