9. April 2020

Lassen Sie Ihre Topspielerinnen und ‑spieler im Büro

Vom Wert der Balance innerer Rollen

Sich im Inneren beweglich und nicht eintönig aufzustellen, ist ein wichtiger Schlüssel psychischer Gesundheit. Es bedeutet, sein „inneres Team“ stimmig einzusetzen und situationsgerecht zu variieren – und damit immer wieder Platz für unterschiedliche Rollen zu schaffen…

Text & Bild | Nadi­ne Tho­mas

Eines mei­ner aktu­el­len The­men ist die „Selbst­für­sor­ge“. Denn gera­de, wenn der Laden gut läuft, ich von einem Ter­min zum nächs­ten hop­se und dabei für mei­ne Arbeit bren­ne, fällt es mir abends schwer abzu­schal­ten. Abstand zu gewin­nen. Nach geta­ner Arbeit in ande­re Rol­len zu schlüp­fen, die mein Leben in Ergän­zung zu mei­ner Arbeits­welt berei­chern. Wenn ich nicht auf­pas­se, kle­be ich dann gera­de­zu an mei­nen inne­ren „Top­spie­le­rin­nen“ fest.

Doch genau die­ser zeit­wei­li­ge Abstand ist so wich­tig, um leben­dig und gesund zu blei­ben! Wir Psy­cho­lo­gin­nen und Psy­cho­lo­gen gehen näm­lich davon aus, dass inne­re Dyna­mik und Viel­falt zur psy­chi­schen Gesund­heit bei­tra­gen. Dass wir unser „inne­res Team“ im bes­ten Fall stim­mig ein­set­zen, das heißt, situa­ti­ons­ge­recht vari­ie­ren – und damit immer wie­der Platz für ande­re Rol­len schaf­fen. „Abzu­schal­ten“ bedeu­tet dann: die Spie­le­rin­nen, die seit Stun­den auf dem Spiel­feld ste­hen, mal zur Erho­lung auf die Bank zu set­zen und ande­ren Spie­le­rin­nen die Chan­ce zu geben.

Aber gera­de, wenn ein­zel­ne Team­mit­glie­der über­prä­sent sind, weil sie bei­spiels­wei­se täg­lich im Job gefor­dert wer­den, kann es pas­sie­ren, dass wir sie in den Fei­er­abend mit­neh­men. Wir sie nicht able­gen kön­nen. Dass die­se Rol­len auch über den Job hin­aus aktiv blei­ben – oder von unse­rer Umwelt aktiv gehal­ten wer­den.

Um ein Bei­spiel zu nen­nen: Nach einem lan­gen Arbeits­tag sit­ze ich im Zug auf dem Heim­weg. Eigent­lich möch­te ich aus dem Fens­ter schau­en, Ener­gie tan­ken, die See­le bau­meln las­sen – nicht zuhö­ren, nicht den­ken, nicht reden müs­sen. Doch mein Platz­nach­bar hat indes­sen erkannt, dass da jemand neben ihm sitzt, der trai­niert dar­in ist, auf­merk­sam, aktiv und gedul­dig zuzu­hö­ren. Er hat sei­ne Chan­ce ergrif­fen. Zack, liegt mir sei­ne gan­ze Lebens­ge­schich­te im lin­ken Ohr. Da ich müde bin, ver­läuft das Gespräch uni­di­rek­tio­nal. Mein Platz­nach­bar redet, ich höre zu und nicke.

Alle ande­ren Men­schen im Abteil schei­nen ihren Fei­er­abend zu genie­ßen – trotz Platz­nach­barn. War­um gelingt mir das nicht? Ich war den gan­zen Tag schon eine akti­ve Zuhö­re­rin und offen­bar fällt es mir jetzt schwer, aus die­ser Rol­le her­aus­zu­fin­den und die Gren­ze zu mei­nem Sitz­nach­bar zu zie­hen. Da sei­ne Geschich­te emo­tio­nal und bewegt ist, möch­te ich ihn nicht unter­bre­chen. Viel­leicht hat er sonst nie­mand, dem er sei­ne Sor­gen erzäh­len kann?

An mich, an mei­nen Fei­er­abend, ist in die­sem Moment nicht mehr zu den­ken. Ich mer­ke erst, als ich ein paar Stun­den spä­ter inner­lich leer aus dem Zug stei­ge, dass ich dem Sitz­nach­bar mei­ne vol­le Auf­merk­sam­keit und mei­ne letz­te Ener­gie geschenkt habe. Für den Moment, in dem ich agie­ren hät­te kön­nen, ist es zu spät.

Zu Hau­se, als ich beim abend­li­chen Zäh­ne­put­zen mei­nen Tag noch ein­mal an mir vor­bei­zie­hen las­se, beschlie­ße ich das Ende die­ses Ein­per­so­nen­stücks, die­ses Solo­spiels. Es ist mir zu ein­för­mig, zu mono­ton. Mei­ne Top­spie­le­rin­nen sind hilf­reich und gut, ja, doch sie allei­ne hal­ten das Innen­le­ben nicht leben­dig.

Wir sind dann glück­lich, wenn wir uns breit auf­stel­len, in dem wir die inne­re Plu­ra­li­tät und Agi­li­tät för­dern. Dafür müs­sen wir aktiv sor­gen. Wir müs­sen eine inne­re Balan­ce unse­rer Rol­len schaf­fen. Und das heißt auch: Gren­zen für man­che die­ser Rol­len aus­ma­chen.

Um den Blick auf mei­ne Rol­len im Arbeits­all­tag und mög­li­che „Gegen­spie­le­rin­nen“ zu schär­fen, ver­sank ich bei der nächs­ten Zug­fahrt in dem Buch: „Las­sen Sie es in Ihrer Pra­xis“ (Nor­cross & Guy, 2010), einem Rat­ge­ber für Psychotherapeut*innen „in ihrem all­täg­li­chen Kampf um die Balan­ce zwi­schen beruf­li­chem und indi­vi­du­el­lem Leben“. Er lässt sich auch für mei­nen Berufs­kon­text der Bera­tung und des Coa­chings gut lesen. In mei­nen Augen soll­te jeder Beruf ein sol­ches Buch von Nor­cross und Guy haben!

 

Lite­ra­tur­ver­weis:

Nor­cross, J. C. & Guy J. D. (2010). Las­sen Sie es in Ihrer Pra­xis. Wie Psy­cho­the­ra­peu­ten für sich selbst sor­gen kön­nen. Göt­tin­gen: Huber.